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Dem Autor selbst war diese Vereinnahmung zwar nicht unsympathisch, aber doch etwas suspekt. Ein "Kirchenvater" der Avantgarde wollte er nie sein, schrieb er 1950 seinem Freund, dem Architekturkritiker Sigfried Giedion, und verwies lieber auf das "unaufteilbare Geheimnis der Gleichzeitigkeit". "Die Antennen waren hier wie da angespannt", urteilte Worringer 1950 im Rückblick. "Aber irgendwie habe ich damals so wenig begriffen, was ich schrieb, wie es meine gleichjungen Leser begriffen haben." Er war eben vor allem Kunsthistoriker, sein akademischer Ehrgeiz zielte auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart. Dabei systematisierte und deutete er die ästhetischen Erfahrungen der Kunstepochen in innovativer, ja experimenteller Weise, wobei er bis in die prähistorische Zeit zurückging. Gerade aus dieser Rückschau gelangte er zu Erkenntnissen, die den Nerv seiner Zeitgenossen vor dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren trafen. So wie er die alte Kunst in Abstraktion und Einfühlung darstellte, konnte sie den Menschen seiner Zeit den Sinn für die Gegenwart schärfen. Das Buch lieferte eine ästhetische und psychologische Begründung der gerade im Entstehen begriffenen modernen Kunst. Manches erscheint uns heute heikel und unverständlich in Worringers Schriften, aber der historische Rang ist ihm unbestritten. Denn er erhob "die nichtrealistische Kunst zur positiven Schöpfung des menschlichen Geistes" so formulierte es 1980 der große Medienwissenschaftler und Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, der vor seiner Emigration die deutsche Geisteswelt der zwanziger und frühen dreißiger Jahre noch intensiv miterlebt hatte.
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